Ein schöner Haarschnitt und ein bisschen Aufmerksamkeit

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Erika Bergmann schneidet seit sieben Jahren Obdachlosen in Hamburg kostenlos die Haare. Sie stärkt dabei auch das Selbstbewusstsein ihrer Kunden und hört ihnen viel zu.

Der kleine Mann mit dem geduckten Gang hat schon eine ganze Weile nicht mehr geduscht. Feucht kleben seine Haare am Kopf. An seiner Kleidung klebt Schlamm. Schweißgeruch füllt den kleinen Raum. Beherzt greift Erika Bergmann dem Mann in die Haare, setzt Kamm und Schere an. „Ich habe keine Berührungsängste“, sagt die 72-Jährige. Sie steht in ihrem kleinen Friseurraum im Keller der Obdachlosen-Tagesstätte „Mahlzeit“ in Hamburg-Altona und lächelt: „Das macht mir großen Spaß hier.“

Seit fast sieben Jahren kommt die Rentnerin ehrenamtlich jeden Mittwochvormittag in die Einrichtung. Stundenlang steht sie dann in ihrem Kellerraum, zwischen Rasierwasserfläschchen, Parfüms, Scheren und einem großen Spiegel. „Es war immer mein Wunsch, Friseurin zu werden“, erzählt die Autodidaktin. „Meine Mutter fand das aber zu unhygienisch, also habe ich Verkäuferin gelernt.“ Erst hier in der Hilfseinrichtung habe sich ihr Herzenswunsch erfüllt.

Von Zöpfen bis zum Irokesenschnitt

„Für mich war die Frage wichtig, was ein Obdachloser alles benötigt“, sagt „Mahlzeit“-Leiterin Marion Sachs. Neben einer heißen Tasse Kaffee, einem warmen, freundlichen Raum und einer sauberen Toilette gehöre dazu eben auch das Haareschneiden. „Früher haben sich die Gäste hier gegenseitig die Haare geschnitten“, sagt die 49-Jährige. Die Frisurenauswahl sei aber beschränkt gewesen: „Einmal mit der Maschine drüber.“

„Ich habe einmal versucht, mir bei der Heilsarmee die Haare schneiden zu lassen“, erzählt Michael, der die Tagesstätte seit Jahren besucht. Aber auch da habe es nur einen Einheitsschnitt gegeben. Erika Bergmann geht auf jeden Frisurenwunsch ein. „Ich habe schon Irokesenschnitte gemacht oder Zöpfe geflochten“, sagt sie.

Für den 48-jährigen Michael bedeutet der Besuch bei Erika Bergmann aber noch mehr als nur einen Haarschnitt. Kaum hat er sich auf den kleinen Stuhl gesetzt, sprudelt es auch schon aus ihm heraus: „Ich will erstmal mit Erika reden.“ Dann plaudern die beiden ausgelassen, zum Beispiel über türkische Friseurmethoden – „die brennen einem die Ohrenhaare aus!“

Mehr als ein Haarschnitt

„Drei Jahre lang habe ich auf der Straße gelebt“, sagt Michael. Mit sieben Menschen habe er unter einer Brücke geschlafen. „Man kann sich nirgendwo zurückziehen, hat keine Privatsphäre, ist mit Leuten zusammen, die viel Alkohol trinken.“ Auch deshalb weiß er die traute Atmosphäre bei Erika Bergmann zu schätzen. „Was mir hier erzählt wird, dringt nicht hinaus“, betont sie. „Viele, die hierher kommen, haben auch seelische Probleme. Denen hilft es schon, wenn man einfach einmal zuhört.“

Einrichtungsleiterin Sachs berichtet, dass viele Obdachlose und Bedürftige auch Hemmungen haben, in einen richtigen Friseursalon zu gehen. Für das Selbstbewusstsein sind Gespräch und Haarschnitt bei Erika Bergmann daher enorm wichtig. „Manche erkennt man gar nicht wieder, wenn sie wieder hochkommen“, sagt Sachs. „Das ist ein viel klarerer, selbstsicherer Blick, der einem da entgegenkommt.“

Quelle: Welt
http://www.welt.de/regionales/hamburg/article106386773/Ein-Haarschnitt-und-ein-bisschen-Aufmerksamkeit.html
Foto: DPA